Die Corona-Pandemie führt uns die Schwächen und Fehlentwicklungen in all unseren Systemen und Gesetzgebungen schonungslos vor Augen – so auch im EU-Chemikalien- bzw. Stoffrecht. Schon zu Beginn der Corona-Pandemie musste die EU-Biozidverordnung in Teilen ausgesetzt bzw. notkorrigiert werden, damit überhaupt genug Handdesinfektionsmittel etc. für Krankenhäuser, Altenheime und die Bevölkerung hergestellt werden konnten. Dabei geht es unter anderem um den Stoff Ethanol (Alkohol), der für die Verwendung in Handdesinfektionsmitteln in der Biozidverordnung (BPR) zugelassen sein muss.
Durch die sehr teure BPR Zulassung, hatten in den letzten Jahren zu wenige Hersteller Ethanol als Biozidwirkstoff in der EU zugelassen. Daher konnte der Markt im Frühjahr – zu Beginn der Corona-Pandemie – nicht mit den notwenigen Mengen für die Herstellung legaler Handdesinfektionsmittel etc. bedient werden, obwohl Ethanol noch in sehr großen Mengen in der EU produziert werden kann. Auf diese problematische Auswirkung, ausgelöst durch ein fehlgeleitetes, weil sehr teures und damit bewusst mittelstandsdiskriminierendes EU-Chemikalienrecht, hatte Südwesttextil bereits lange vor der Corona-Pandemie hingewiesen (siehe hier). Doch neues Ungemach in Sachen Alkohol droht durch die EU-Gesetzgebung. Ethanol soll in der EU demnächst als karzinogen eingestuft werden. Das wird viele Verwerfungen nach sich ziehen, wie der Verband der Chemischen Industrie in Bayern hier aufzeigt.
Darüber hinaus musste der REACH-Regelungsausschuss am 20. November 2020 mit einer Änderung des „Eintrags 42“ im REACH-Verzeichnis zulassungspflichtiger Stoffe eingreifen, um „die Verwendungen eines von der REACH-Zulassung betroffenen Stoffes 4-(1,1,3,3 Tetramethylbutyl)phenol, ethoxyliert für die Erforschung, Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln sowie in Medizinprodukten, zu ermöglichen, der zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie eingesetzt wird.“ Der Stoff gehört zur Gruppe der Alkylphenolethoxilate (APEO‘s), die auch Textilern bekannt sind. Unterliegt ein Stoff der REACH-Zulassung, ist dessen Verwendung eigentlich in der EU verboten und er darf nur verwendet werden, wenn er einen entsprechenden Antrag bzw. ein langwieriges Zulassungsverfahren vom Verwender bei der ECHA durchlaufen hat, was sich in der Regel Jahre hinziehen kann. Diese Zeit hat man nun nicht! Auch dieser Umstand zeigt, dass das EU- Chemikalienrecht selbst im Bereich Innovationsfähigkeit und Schutz der Bevölkerung völlig im Weg steht und genau das Gegenteil bewirkt, was es ursprünglich versprochen hat.
Per Delegierten Verordnung wurde nun auch am 27. November 2020 eine Änderung des Anhangs I der Verordnung (EU) 2019/1021 (POP-Verordnung) hinsichtlich Perfluoroctansäure (PFOA), ihrer Salze und PFOA-verwandter Verbindungen, von der EU-Kommission verabschiedet, die für medizinische Textilien (z.B. „Corona-Schutztextilien“ aller Art, OP-Abdeckungen usw.) mit höchster Schutzwirkung für die EU-Bevölkerung sehr wichtig sind. Diese zwölfjährige Ausnahme aus dem REACH ANNEX XVII, Entry 68 wurde den Textilern – mitten in der Corona-Pandemie – über die seit April 2020 gültige POP-Verordnung, maßgeblich durch das Zutun des deutschen Umweltbundesamtes, aberkannt. Südwesttextil berichtete darüber (siehe hier) und war darüber hinaus unermüdlich aktiv, diese umfassende Problematik und zudem nicht rechtskonforme Entscheidung der Umweltbehörden an die verantwortlichen Stellen zu adressieren.
Diese PFOA-Ausnahme ist nun wieder bei der POP (Persistent Organic Pollutants)-VO eingeführt worden, denn den nun gültigen PFOA/PFOA-Related Substances Grenzwert (2000 ppb) können C8-ausgerüstete Textilien, die der EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation - MDR) unterliegen, einhalten. Damit können diese überlebenswichtigen Schutztextilien bis auf Weiteres (Review alle zwei Jahre) wieder in der EU legal verkehrsfähig vermarktet und verwendet werden.
Wir adressieren auch das PFOA-Thema weiter, da es noch viele weitere Punkte in dieser mit vielen Fragezeichen versehenen und faktisch nicht umsetzbaren Gesetzgebung für unsere Mitglieder, viele andere Industriebereiche, maßgeblich Medizinprodukte, zu klären gibt.
Erste Fortschritte für Textiler zeichnen sich auch bei der PFHxA-C6-Chemie-Gesetzgebung ab – doch ist es noch ein sehr weiter Weg. Die Restriktionsseite, vornehmlich das deutsche Umweltbundesamt (UBA), lässt jegliche naturwissenschaftliche Objektivität, Fachlichkeit und Präzision in der PFHxA-Restriktion vermissen. Die Sitzungen RAC 44 und RAC 55 bei der ECHA in Helsinki zeugen davon. Mit einer vom UBA vorgebrachten PFHxA-Restriktionsprozedur, bei der man selbst Tafelsalz aus unserem täglichen Essen wegregulieren müsste, führt man das EU-Chemikalienrecht nunmehr vollends ad absurdum und die absehbaren Folgen sind wieder fatal.
Abschließend muss festgehalten werden: Aufgrund der vielen REACH-Restriktionsverfahren, REACH-Zulassungsverfahren, Stoffverbote etc. und diverser europäischer und nationaler emissionsrechtlicher Gesetzgebungsaktivitäten werden hochkomplexe Summenwirkungen ausgelöst, die den Kollaps des ganzen Systems vorprogrammieren. Denn – alles ist Chemie und steuert so die ganze Wirtschaft! Die aufgezeigten einzelnen Reparaturmaßnahmen, die Textiler zudem noch in ganz anderen Bereichen an vielen Stellen befördern, können den durch das EU-Stoff- und Chemikalienrecht avisierten Totalkollaps allenfalls verzögern, aber bei weitem nicht in Gänze aufhalten. Vor allem nicht mit der am 14. Oktober 2020 von der EU-Kommission bzw. dem EU-Parlament beschlossenen neuen EU-Chemikalienstrategie!